Lynn Hershman Leeson, Preisträgerin 2010
Lynn Hershman Leeson gehört seit den 70er-Jahren zu den führenden KünstlerInnen im Bereich Medienkunst und bezieht immer wieder neu aufkommende, digitale Technologien in ihre Arbeiten ein. Sie ist eine der entscheidenden Künstlerinnen im Kontext des feministeischen Diskurses und eine Pionierin im Bereich interaktiver computer- und internetbasierter Medienkunst.
Das Statement der Jury zur Preisträgerin 2010
Lynn Hershman Leeson gehört seit den 70er-Jahren zu den führenden KünstlerInnen im Bereich Medienkunst und bezieht immer wieder neu aufkommende, digitale Technologien in ihre Arbeiten ein. Sie ist eine der entscheidenden Künstlerinnen im Kontext des feministischen Diskurses und eine Pionierin im Bereich interaktiver, Computer- und Internet-basierter Medienkunst. Hershman Leeson hat intensiv und sehr ergiebig in den Bereichen Fotografie, Performance, Mixed Media, digitale Kunst, Video, Film und interaktive Medien gearbeitet.
In den letzten 40 Jahren hat sich Hershman Leeson der visuellen Künste, des Films und der populären Kultur bedient, um – unter Verwendung von digitalen Mitteln und cineastischen Metaphern – die sich in der Gesellschaft verändernden Vorstellungen von Identität, Erinnerung und Geschichte widerzuspiegeln, sowie diese durch Technologie vermittelt werden. Mit Konsequenz erkundet die Künstlerin Themen, die im Zusammenhang mit Konsum, Privatsphäre, Überwachung und den Prozessen stehen, aus denen persönliche Macht erwächst. Dazu arbeitet sie mit sozialen Kontexten und Medienplattformen.
In ihren frühsten Werken widmet sich Hershman Leeson der Erschaffung von fiktionalen Charakteren in einer realen gesellschaftlichen Umgebung. Diese auf Rollenspielen basierenden Interventionen gehörten zu den ersten, die während des Aufkommens der Frauenbewegung in den 70er-Jahren den Fokus auf die kulturellen Einflüsse von Genderfragen richteten.
Zu den bekanntesten Projekten von Hershman Leesons gehört Roberta Breitmore, eine fiktionale Person, die zwischen 1971-1980 von der Künstlerin erschaffen und gespielt wurde. Roberta hatte ihre eigene Handschrift, Kleidung, Gesten und Stimmungen. Sie besuchte Galerien und verabredete sich mit Männern, die auf ihre Anzeigen in der lokalen Zeitung reagierten. Ihre Taten wurden durch Privatdetektive dokumentiert, die die Künstlerin engagiert hatte, und die Existenz Robertas in der realen Welt wurde durch Bibliotheksausweise, Führerschein, Zahnarztbesuche und einen Arbeitsvertrag belegt. Roberta reflektierte die Werte ihrer Kultur und partizipierte an Trends wie den Weight Watchers, während sie gleichzeitig einen scharfsinnigen Blick auf die Frauen in ihrer Umgebung warf und die Auswirkungen von sexueller Subjektivität erforschte.
Neben Roberta Breitmore erschuf Hershman Leeson in Zusammenarbeit mit Eleanor Coppola The Dante Hotel (1973). Für diese Arbeit buchte die Künstlerin ein Hotelzimmer und stattete es mit verschiedenartigen Gegenständen aus. Die Objekte in dem Raum konnten Spuren früherer Nutzer sein oder von Besucher stammen, die an der Installation teilnehmen konnten, in dem sie die physischen Elemente veränderten oder etwas hinzufügten.
In den späten 70er-Jahren begann Hershman Leeson, mit Video zu arbeiten. Sie verwendete das Medium, um ihre Untersuchungen über das Sehen, das Schauspiel und die Zuschauerei zu vertiefen. In ihren selbstreflektierenden Videoarbeiten zielt sie darauf ab, gefestigte Auffassungen von Identität zu widerlegen, in dem sie den Körper als ein Medium einsetzt, auf das soziale Werte eingraviert sind.
Hershman Leesons Werk weist eine kontinuierliche Beschäftigung mit der Einbeziehung des Zuschauers als einen aktiven Teilnehmer an einem Kunstwerk auf, was sie in den 80er- und 90er-Jahren zu der Entwicklung von Mensch-Computer-Interfaces und später zu der Erforschung der Beziehung zwischen realen und virtuellen Welten führte. Veranschaulicht ist dies in ihrem neuen Projekt Life to the Second Power: Animating the Archive, das eine Rekonstruktion von Archivmaterial beinhaltet, welches bei früheren Performances produziert wurde (The Dante Hotel und Roberta Breitmore), um nun ein Spiele-Interface für die Internet-Plattform Second Life herzustellen.
Hershman Leeson ist verantwortlich für eine Reihe technologischer Innovationen, wie z. B. das erste interaktive Kunstwerk auf Videodisk mit dem Titel Lorna (1979–1983) und mit Deep Contact: The Sexual Fantasy Videodisk (1984–86) das erste Kunstwerk, das Sensorbildschirme verwendete.
Room of One's Own (1990–1993) war ihre dritte interaktive Arbeit, die gefolgt wurde von America's Finest (1993–1995), mit der sie Étienne Jules Mareys Idee eines Kamera-Gewehrs umsetzte. Und schließlich konnte sie als Auftragsarbeit für das Seattle Art Museum die Arbeit Paranoid Mirror (1995–1996) ausführen. In diesen interaktiven Arbeiten interessierte sich Hershman Leeson dafür, wie sich der Blick des Betrachters verstrickt und politisiert wird in der gestaltgewordenen Darstellung des reflektierten Selbst.
Seit 1995 hat Hershman Leeson Werke mit Telerobotik erschaffen und mit Arbeiten experimentiert, die sowohl Elemente eines realen Orts als auch des Internets verwendeten; The Difference Engine #3 wurde 1998 im Media Museum des Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) gezeigt und Time and Time Again wurde 1999 im Wilhelm-Lehmbruck Museum in Duisburg präsentiert im Rahmen einer Ausstellung mit dem Titel Connected Cities: Processes of Art in the Urban Network.
Conceiving Ada aus dem Jahr 1997 war ihr erster Film, der nicht nur die Erfindung virtueller Sets mit Hilfe der Blue-Screen Technologie und Computergrafik beinhaltet sondern auch die Kreation von The Difference Engine #3, ein interaktives internetbasiertes Kunstwerk über Identität, das die Goldene Nica der Ars Electronica gewonnen hat und nun Teil der ständigen Sammlung des ZKMs ist.
Hershman Leesons zweiter Film Teknolust aus dem Jahr 2002 hatte auch interaktive Komponenten mit Agent Ruby und Dina, die jetzt in den Sammlungen des San Francisco Museum of Modern Art und von Donald Hess vertreten sind. Diese Kunstwerke nutzen Roboter mit künstlicher Intelligenz, um Interaktion mit den Zuschauern hervorzurufen und so Aspekte des Skripts zu erweitern.
In dem Film Strange Culture (2007), einer Mischung aus Fiktion, Dokumentation und Animation, schildert Hershman Leeson die Geschichte des Künstlers Steve Kurtz vom Critical Art Ensembles, der wegen seiner kritischer Arbeiten über genmanipulierte Nahrung verhaftet wurde; eine schockierende Darstellung, die unerschrocken Themen der Privatsphäre, nationaler Sicherheit und Menschenrechte anspricht.
Hershman Leeson lebt in San Francisco, USA. Sie leitet die Filmfakultät am San Francisco Art Institute und ist emeritierte Professorin für digitale Kunst des Studiengang Technocultural Studies an der University of California, Davis, sowie A.D. White Professor at Large an der Cornell Universität.
Für die Jury, Kelli Dipple, Kuratorin, Intermedia Art, Tate Modern, London, Mai 2010